Eine Sekunde

Eine Sekunde. Nur ein einziger kleiner Augenblick; Kann denn dieser Bruchteil von Zeit ein ganzes weiteres Leben entscheiden? Eine kleine Sekunde? Sie kann. In meinem Fall geschehen während meines Zivildienstes im Krankenhaus. Ich hatte noch ungefähr einen Monat vor mir. Routine hatte sich mittlerweile eingeschlichen. Eine Aufgabe, die ich schon etliche Male zuvor erledigt habe. Ein in ein Tuch gewickeltes Verbandsset liegt neben der Desinfektionsspüle und muss eigentlich nur noch in diese einsortiert werden. Diesmal anders. Eine neue Krankenschwesterschülerin im selben Raum. Ich bin abgelenkt. Flirte mit ihr. Greife unachtsam nach dem Set. Ein Stich. Schmerz. Scheiße. Schnell wickle ich das Tuch ab, um nachzusehen, was mich da gestochen hat. Ein benutztes Besteck. Verdammt. Zunächst kein Blut. Ich desinfiziere sofort meine Hand. Mehrere Male. Dann doch Blut. Ich drücke die Wunde aus. Werde wütend. Wie können die Ärzte nur so sorglos ihren Scheiß liegen lassen? Noch mehr aber auf mich. Wieso habe ich nicht aufgepasst? Das dürfte eigentlich überhaupt nicht meine Aufgabe sein. Es gibt Schutzgesetze für Zivildienstleistende. Fünfzig Prozent der Patienten auf meiner Station haben Hepatitis C. Eine unheilbare Form von Hepatitis, die bei einem Fünftel der Erkrankten zur Leberzirrhose, also dem sich Zersetzten der Leber, und später zu einem Leberkarzinom, also einem Lebertumor, führt. Was in diesem Falle tödlich ist. Sie wird ähnlich wie der Immunschwächevirus HIV über Körperflüssigkeiten übertragen und ist eben auch annähernd so gefährlich. Nur dass Hepatitis absolut keinen gesellschaftlichen Stand hat. Die meisten Patienten haben sich vor Jahren mit gespendetem Blut infiziert, weil dieses damals noch nicht auf Hepatitisformen getestet wurde. Und jetzt also eine Quote von eins zu zwei, dass ich es auch habe. Innerhalb von nur einer winzigen Sekunde. Ein Bluttest sofort bringt überhaupt nichts. Erst nach etwa vier Wochen kann man den Virus im Körper mit Sicherheit feststellen beziehungsweise ausschließen. Vier Wochen Ungewissheit also. Diese Ungewissheit ist fast unerträglich. Mit ihr kommt das Selbstmitleid. Warum ausgerechnet ich? Ich bin doch noch so jung. Man wägt ab. Medikamente ja, Medikamente nein. Es dann womöglich selber schnell zu beenden. Das Schlimmste ist jedoch die geglaubt geraubte Möglichkeit Nachkommen in die Welt zu setzen. Und dass man mit seinen Ängsten alleine dasteht. Den Menschen, die Einem am Nächsten sind, kann man sich nicht anvertrauen, weil diese sich nur noch mehr kaputt machen würden, als man es selber schon tut. Und Freunde, denen man es erzählt, können meist die Tragweite dieser Sekunde gar nicht richtig nachvollziehen. Also ist man alleine damit. Das Ergebnis nach vier Wochen war wie eine kleine Wiedergeburt für mich. Ich hatte Glück. Habe mir absolut nichts eingefangen. Doch was wäre gewesen wenn doch? Wegen nur einer einzigen Sekunde. Eine Sekunde, die dennoch Alles änderte.

Eine Widmung an alle Hepatitisinfizierte und all diejenigen, die täglich bewusst ihr Leben aufs Spiel setzen, um anderen Menschen zu helfen.

Mac

Zurück zur Übersicht...


Kontakt: kolumne-AT-hpfsc.de (wichtig: -AT- ersetzen durch @)
letzte Änderung: 29.03.2005
Falls nicht vorhanden, dann hiermit Navigationsleiste laden