Wer war Micha?

Was für ein Fake! Ich googelte® Micha. Er hatte schon länger nichts mehr von sich hören lassen. Eigentlich suchte ich eine neue E-Mail-Adresse. Und fand eine Anzeige auf einem Online-Bestattungsportal. Das kann doch nicht sein! Das kauf ich nicht! Was für ein Blödsinn! Aber das ist doch sein Foto. Wieso macht er denn so was? Nicht wahr haben wollen. 32 Jahre. Ich versteh das nicht. Was ist denn bloß passiert? Ich machte mit Micha zusammen mein Abitur an der Abendschule nach. Wir besuchten so ziemlich dieselben Kurse. Micha war klug. Viel klüger als ich. Er kam jeden Tag aus einer Kleinstadt etwa eine Stunde entfernt angereist. Wenn er kam. Micha war auch ein bisschen kaputt. Drogen? Kann schon sein. Depressionen? Selbstmord? Nein, da stehen ein paar Zeilen von ihm. Er schreibt er wäre gerne noch länger geblieben. Das passt nicht. Warum hat er denn nur nichts gesagt? Nichts angedeutet? Oder habe ich nicht hingehört? Wut. „Micha war immer sehr verschlossen“, sagt meine Frau. Genau wie ich. Ich nahm Micha damals mit auf meinen Junggesellenabschied in meine Heimatstadt. Kein Anderer von hier hatte wirklich Zeit und Lust meine Wurzeln zu besuchen. Micha schon. Er war immer interessiert und offen. Wir spielten Fußball, soffen, lachten.

Ich schlafe dieser Tage schlecht. Bearbeite Puzzelteile im Kopf zum Verstehen. Hilft nichts. Er ist tot. Resignation. Wir trafen uns etwa jedes halbe Jahr in einem Café gegenüber der alten Schule. Dort philosophierten wir rund ums Leben. Spinnereien entgegen dem Alltäglichen. Ich freute mich drauf, jedes Mal. Micha spricht in seinen letzten Zeilen von Dankbarkeit und Liebe für seine Familie. Damals in der Schule sprach er, wenn er sprach, vom Spießertum seiner Eltern. Versöhnung zum Abschied. Wie schön. Welch Größe. Mir fallen Begebenheiten aus den letzten Treffen ein. Details. Das letzte, oder war es das vorletzte Mal, sprach ich ihn auf einen Fleck an seinem Hals an. Was er denn da für ein AIDS-Fleck habe? Es wirkte wie so ein Kaposi-Sarkom aus dem Film Philadelphia. Er antwortete nicht darauf. Und ich dachte mir nichts dabei. Und dann diese komische Verrenkung gegen Ende, beim Lesen einer Nachricht auf seinem Smartphone®. Ich dachte, der verarscht mich. Wie schwach muss er da schon gewesen sein? Und wie eingeschränkt im Sehen? Hatte Micha AIDS? „Micha sah fertig aus“, erzählte ich meiner Frau nach unserem letzten Treffen. Nichts ungewöhnliches, bei seinem extensiven Lebensstil. Unrasiert war eigentlich immer. Mit seinen HipHop-Klamotten und dem Base Cap, was man eigentlich so etwa 10 Jahre jünger trägt. Aber irgendwie war das sein Stil. Hatte Micha etwa Angst davor, dass man ihn im Zusammenhang mit AIDS als schwul anfeinden würde? War Micha schwul? Er erzählte von Freundinnen. Vielleicht ja Bi? Interessiert doch nicht wirklich. Hätte auch nichts geändert an den Treffen. An Allem nicht. Das hätte ihm klar sein müssen. Vielleicht aber genoss er auch einfach nur diese Normalität bei unseren Treffen, sich eine Zeit lang nicht mit dem Unausweichlichen auseinandersetzen zu müssen. Hausbau und Kinder, das waren nicht seine Themen. Das merkte man, deshalb sprachen wir auch nicht darüber. Ich dachte immer, er sei nicht der Typ dafür. Vielleicht ja zwangsläufig nicht? Es war ein recht kurzes Treffen, dieses letzte Treffen. Das weiß ich noch. Wie wir schließlich auseinander gingen, die letzten Worte, die wir dabei wechselten, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Herzlich, wie immer. Vermutlich. Micha rief mich zu meinem Geburtstag an. Machte er jedes Jahr. Wann wir uns mal wieder treffen wollen, fragte ich. Im Moment hätte er grad viel um die Ohren, er würde sich melden. Ich dachte an Uni-Stress. Er wohl an Kraft. Dann schrieb ich ihm auf facebook®. Zu seinem Geburtstag ging nur eine Mailbox ran. Nichts ungewöhnliches, vielleicht war er wieder einmal im Ausland unterwegs. Er ruft bestimmt zurück. Wochen später schrieb ich ihm erneut. Schon barscher im Ton, er solle sich gefälligst mal wieder melden! Sein facebbook®-Profil signalisiert heute noch 183 Freunde, und vermittelt, dass die nächste Party nicht weit weg sein kann. Das Online-Bestattungsportal jedoch verrät noch etwas anderes. Zu den letzten Treffen war es Micha immer wichtig, dass noch Jemand weiteres aus alten Abendschultagen mit dabei war. Etwa vorausschauend für die Zeit danach? Wie lange wusste er es schon? So viele Fragen.

Ob ich mich eigentlich anders verhalten hätte als er? Ob ich ihm etwas davon erzählt hätte, wenn ich eventuell nicht mehr lange zu leben gehabt hätte? Höchstwahrscheinlich nicht. Akzeptanz. Und ob das Alles stimmt, wie ich es mir so zusammengepuzzelt habe? Keine Ahnung. Ich will nicht nachfragen. Seine Familie ist bestimmt schon viel weiter in ihrer Trauerarbeit. Ich will keine offenen Wunden lecken. Ich kenne sie ja nicht einmal. Wer war Micha eigentlich? Ein Unbekannter? Er war ein Freund von mir.

Mac
 

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letzte Änderung: 17.01.2014
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