Kolumne über die lieben Straßen

Sehr geehrter Leser,

ich bin gerade aus einem Land zurückgekehrt, in welchem sehr seltsame Umstände existieren. Ich möchte Ihnen davon berichten, damit Sie sich eine Vorstellung von meiner Verwunderung machen können, die ich empfand, als ich mich dort aufhielt.

Ich reiste Anfang Herbst ein. Der Verlag, der mein Buch dort vertrieb, lud mich ein, in Lesungen und Vorträgen mein Buch vorzustellen und mit den Anwesenden darüber zu diskutieren. Ich nutzte die Gelegenheit und den günstigen Terminplan, um mich ein wenig mit Mensch und Land vertraut zu machen. Ich fand dabei mehr Bindendes als Trennendes vor. Unsere beiden Kulturen gleichen sich sehr stark und wir haben in etwa die gleichen Vorstellungen von Geist und Leben, so dass sich mir, abgesehen vom Klima, eigentlich nichts Neues bot.

Doch ich kündigte es Ihnen schon an: Es gibt eine kleine Absonderlichkeit, welche uns unterscheidet, doch die Auswirkungen dieser einen Sache sind um so beeindruckender.

Wie auch bei uns nutzen die Bürger die Möglichkeiten des Automobils, um sich fortzubewegen. Da jedoch die Entfernungen in ihrem Land wesentlich größer sind als bei uns, und die unbebauten Regionen nicht zu befahren sind, ist der Personen- und Gütertransport über Straßen dort um ein Vielfaches wichtiger und unumgänglich. Um so seltsamer erschien mir der Umstand, dass es niemanden verboten wurde, auf diesen Straßen sein Fahrzeug einfach abzustellen und den restlichen Verkehr zu behindern. Auf meine Fragen hin wurde mir deutlich, dass es sich bei diesem Sachverhalt um ein tiefverwurzeltes Freiheitsverständnis handelte. Straßen wurden sowohl als Fahrbahn, als auch als Parkfläche verstanden und die Beschneidung dieser Rechte wurde von allen Seiten abgelehnt.

Dies, so könnten Sie jetzt meinen, sei jedoch einfach nur ein Fall von unterschiedlichen kulturellen Auffassungen und keiner weiteren Betrachtung wert, ich aber sah die Folgen dieser, für mich, absurden Definition von Straßen. So konnte ein einzelner Fahrzeugbesitzer sein Fahrzeug auf der Fahrbahn stoppen, sein Fahrzeug verlassen und erst nach unbestimmter Zeit zurückkehren und es wieder in Betrieb nehmen; solange er jedoch parkte, blockierte er den Verkehr. Güter kamen so nie zu einem Käufer und Arbeiter nie zu einer Beschäftigung. Obwohl in der einen Stadt sehr wohl Bedarf nach einer Ware bestand und diese Ware in einer anderen Stadt existierte, kamen diese beiden doch nie zu einander, da die Straßen zwischen ihnen als Parkfläche genutzt wurden und nicht mehr als Fahrbahn dienen konnten.

Das auf der Grundlage solchen stockenden Handels kein vernünftiges Wirtschaften möglich war, braucht wohl nicht erklärt zu werden. Als ich mich daraufhin über die Geschichte meines Gastlandes informierte, stieß ich auch sofort auf Wirtschaftskrisen in ferner und naher Vergangenheit, die dieses Bild bestätigten. Obwohl also diese Doppelnutzung der Straßen regelmäßig zu Problemen führte, wollte doch kein Bürger verstehen, dass darin ein Großteil ihrer wirtschaftlichen und damit auch sozialen und politischen Probleme lag.

Doch mein Bericht ist noch nicht zu Ende. Denn ein Grund dafür, dass der vorhandene Widerspruch nicht erkannt wird, liegt in der Gewohnheit einer Lösung, die sich inzwischen etabliert hat und die scheinbar das Wirtschaften problemlos ermöglicht - wenn auch nur über kurze Zeit. Wie schon dargelegt, wird das Blockieren der Straßen, welche eigentlich öffentliches Gut sind, ungestrafft zugelassen, obwohl es sich hierbei eindeutig um eine gesellschaftsschädigende Tat handelt. Bei uns würde dies zu einer Bußgeldzahlung und sogar zu einer Entfernung des Fahrzeugs von der Straße führen, nicht jedoch bei meinen Gastgebern. Da diese Option - die Strafe - also wegfiel, wurde auf die Methode der Belohnung zurück gegriffen. Diese sieht so aus, dass ein Fahrer, welcher den blockierten Straßenteil befahren will, um seine Fahrt fortzusetzen, den parkenden eine Gebühr dafür zahlt. Der Parkende wird damit also zur Freigabe der Straße "überredet". Natürlich nur vorrübergehend, da er sofort danach wieder die Straße sperren kann. Dieses Verhalten führte dazu, dass heute kaum noch eine Straße durch parkende Autos versperrt ist, da sich natürlich niemand, der die Möglichkeit zur Sperrung hätte, die Belohnung für die Freimachung der Straße entgehen lässt.

Kurzfristig scheint das Problem damit also behoben. Mittel- und langfristig sieht die Sache jedoch anders aus: Durch die Bedienung der "Straßenfreimachgebühr" wandert immer mehr Leistung von denjenigen, welche die Straße zum Wirtschaften benötigen, zu denjenigen, welche durch diese "geschenkte" Leistung immer unabhängiger von der Straße werden, diese selbst nicht mehr nutzen müssen und damit noch weniger ihr Fahrzeug bewegen. Da diejenigen, welche damit ein leistungsloses Einkommen erhalten, im Wohlstand steigen, können sie sich alsbald ein zweites Fahrzeug leisten, welches ihre Möglichkeit die Straße zu sperren verdoppelt, damit verdoppelt sich auch ihr Einkommen, welches dann wieder zu einer Verdopplung der Fahrzeuge führt, welche sie besitzen.

Man sieht hieran, dass sich die Zahl der Fahrzeuge exponentiell vergrößert und damit einhergehend der Anspruch auf die Leistung der leistungserbringenden Wirtschaftsteilnehmer. Dass es sich hierbei nicht nur um eine theoretische Überlegung handelt, konnte ich nachprüfen, in dem ich einen Blick in die statistischen Daten des Landes warf und den Anstieg der Fahrzeuge, sowie den Zuwachs der "Straßenfreimachgebühr" über etwa fünfzig Jahre hinweg nachlesen konnte.

Diese Umverteilung der Einkommen führt verständlicherweise zu immer größeren sozialen Spannungen innerhalb der Gesellschaft. Um die zunehmende Verarmung der Bürger zu verhindern, sind deshalb der Staat, die Bürger und die Wirtschaft auf ein ständiges Wirtschaftswachstum eingeschworen, um die Einkommen aller ständig zu vergrößern und so die Umverteilung immer größerer Einkommensanteile verkraftbar zu machen. Da dieses Unterfangen jedoch nur Erfolg hat, wenn es im Gleichschritt mit dem Anspruch der "Straßenfreimachgebühr" wächst, ist es von vornherein zum Scheitern verurteilt: Keine physikalische Größe kann auf ewig expotenziell wachsen, ohne das umschließende System und sich selbst zu zerstören.

Damit steckt die Gesellschaft, in welcher ich zu Gast war, in einem ernsten Dilemma: Entweder wächst ihre Wirtschaft bis zur Selbstzerstörung weiter, welche durch Umweltschädigungen oder Kriege herbeigeführt werden kann. Oder aber sie widersetzt sich dem Wachstumszwang und gerät so in eine soziale Krise, deren Folgen kaum weniger schlimm sein dürften. Sollte sie auch dass nicht wollen und die Umverteilung der Leistung stoppen, so werden die Fahrzeugbesitzer, welche ihre Fahrzeuge bis jetzt nicht auf der Fahrbahn abstellen, dies sehr bald wieder tun und damit die Wirtschaft des Landes in den Zusammenbruch führen. Ich erfragte, ich erklärte, ich diskutierte mit meinen Gastgebern das Problem; sie jedoch sahen mich nur unverständig an und wollten die Ursache für den Großteil ihrer Probleme nicht wahrhaben.

Zur Zeit meiner Abreise beherrscht die dortige Gesellschaft eine Diskussion, ob das Ankurbeln der Konjunktur und die Verringerung der Arbeitslosigkeit durch Höherhängen der Verkehrsschilder erreicht werden kann. Ich beteiligte mich nicht an dieser Auseinadersetzung, bei der es, wie es schien, nur noch um den Zahlenwert der neuen Höhe ging.

Dies ist auch schon das Ende meines Berichtes. Am Morgen, nach der feierlichen Verabschiedung im Verlagsgebäude, machte ich mich auf den Rückweg.

Ich hoffe, lieber Leser, Sie sind sich jetzt bewußt wie glücklich Sie sich schätzen können, dass Sie nicht in einem Land leben, in dem ein, für das Wirtschaften unabdingbares Objekt, zwei widersprüchliche Eigenschaften besitzt, welche die Wirtschaft regelmäßig in Krisen führen.

Mit Hoffen auf Einsicht,

Martin Hedler
 

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letzte Änderung: 29.03.2004
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