Mit einem Mal war alles still

Mit einem Mal war alles still. Aller Lärm war eins zwei drei vom lauten Klingeln verschluckt worden. Evelyn schaute sich schüchtern um. Die Türen waren verschlossen, der Gang war leer. Das Linoleum glänzte matt im fahlen Licht. Man hörte ein leises Murmeln vom Lehrer im nächsten Klassenraum und der Regen klopfte flüsternd an die Fensterscheiben.
Evelyn schaute sich noch einmal um. Hinter ihr, genau am Ende des Flures war ihr Klassenzimmer. Hier hatte, bis vor zehn Minuten, die Lehrerin langsam und bestimmt der Klasse die kleinen Dinge des Lebens beigebracht. Heute hatten sie über das Ei gesprochen.
Frau Werfer ging vorn an ihrem Pult auf und ab und feuerte leise Fragen in die Klasse. "Justus, was schlüpft aus einem Ei?" "Ein Küken." "Ein Huhn genau. Hannes, was noch?"
"Eine Ente oder so was." "Ja, die auch. Und Evelyn, fällt dir etwas ein was aus einem Ei schlüpft?"
Evelyn hatte aus dem Fenster geschaut. Eine große Pfütze bildete sich draußen, vom Fahrradstand bis zum großen Tor. Evelyn stellte sich vor wie sie ihren roten Regenschirm aufspannte und dieser sie, von einer Windbö getragen, geradewegs über die Pfütze hinüber fliegen lassen würde. Und sie lächelte bei dem Gedanken. Ihr Name echote durch den Raum ohne dass sie ihn hörte, aber sie spürte wie sich die ungeduldigen, Luft anhaltenden Blicke auf sie richteten. Ohne ihren Regenschirm, der jetzt als roter Punkt auf der Pfütze trieb, schoss sie geradewegs durch das Fenster wieder in den dunklen Klassenraum in der ersten Etage.
Sie wirbelte herum, gerade rechtzeitig um noch zu hören was gefragt wurde. "Ein Drachen." kam es klar und atemlos aus ihrem Mund und schwebte ein paar Sekunden in der Luft, bevor ein Kichern ertönte. Dann noch eins und noch eins, bis alle lachten. "Na, da hast du wohl geträumt, Evelyn." sagte Frau Werfer leise. Sie schaute sie kurz tadelnd an, bevor sie sich wieder der Klasse zuwandte und um Ruhe bat. Evelyn wurde rot bis unter die Haarspitzen. Wie hatte sie das sagen können? Laut, vor Allen aus ihrer Klasse? Sie schaute auf ihre Hände, auf die zerkratzte Tischplatte und schließlich auf den kleinen, weißen Karton, der unscheinbar neben ihrem Rucksack stand. Eine Träne tropfte auf ihre Hand, eine andere verfing sich in den Haaren hinter denen sie ihr Gesicht versteckte.
Es klingelte. Einer nach dem anderen verließen sie laut tobend den Raum. Schluss für heute. Eine Kinderschar ergoss sich auf den Hof, patschte durch die Pfütze, lief schnell in alle Winde um nicht nass zu werden.
Langsam stand Evelyn auf, nahm ihre Tasche und hob vorsichtig den Karton auf. Langsam ging sie auf den Gang, wartete, wartete. Es klingelte. Die Türen schlossen sich. Der Lärm verebbte kraftlos.
Sie stand immer noch da. Den Karton an sich gepresst, hielt sie ihn doch behutsam, als wäre er zerbrechlich. Evelyn überlegte. Sie brauchte einen Raum. Einen Raum in dem sie allein war und ungestört den Karton öffnen konnte. Sie ging leise den Gang entlang. Die erste Tür auf der linken Seite war fest verschlossen. Sie legte ihr Ohr an das Schlüsselloch und hörte wie ein Mann unverständliche Worte immer wieder vor sich hersagte und schließlich wiederholten müde Schülerstimmen das Gefasel.
Evelyn ging zur nächsten Tür. Hier hatte ihr großer Bruder oft Unterricht gehabt. Aber der war schon lange auf einer anderen Schule. Diesmal schaute sie vorsichtig durch das Schlüsselloch. Und der Raum war leer! Sie legte vorsichtshalber noch einmal das Ohr an die Tür doch es war wirklich still. Behutsam öffnete sie die Tür. Der Raum war dunkel, doch sie traute sich nicht das Licht anzumachen. Stattdessen ging sie näher zu den Fenstern, die sich gegenüber der Tür befanden. Sie stellte den Karton auf den Tisch und las noch einmal ihren Namen, der in geschwungenen Buchstaben oben rechts zu lesen war. Sie legte ihr Ohr an den Karton wie sie es auch mit den Türen getan hatte und hielt überrascht die Luft an als sie ein Rascheln hörte. Ein Rascheln! Plötzlich ging die Tür auf. Nicht die Tür durch die Evelyn gekommen war, sondern die Tür die sich rechts neben der Tafel befand. Wie hatte sie nur vergessen können, dass sich dahinter noch ein Raum befand? Nicht groß, gerade ausreichend für die vier Schränke und zwei Bänke, die darin standen. Evelyn war schon manchmal dort gewesen, denn dort waren die Zeichenblätter und Farben für den Zeichenunterricht untergebracht und oft saßen dort auch die Lehrerinnen der Grundstufe und tranken ihren Kaffee in der Pause. Wie hatte sie das nur vergessen können?
Und jetzt öffnete sich leise die Tür. Frau Werfer trat ins Dunkel des anderen Raumes und erst schien es als würde sie Evelyn gar nicht sehen. Doch dann drehte sie sich noch einmal um und schaute ihr geradewegs in die Augen: "Evelyn! Was machst du noch hier?". Wieder wurde Evelyn rot. Starr blickte sie auf die graue Tischplatte. "Werden sich deine Eltern nicht Sorgen machen?" fragte Frau Werfer etwas sanfter und trat näher. Ihr Blick, der Güte zeigen sollte, fiel auf den Karton. Sie streckte die Hand danach aus, doch Evelyn zog ihn schnell zu sich. Frau Werfer blickte Evelyn erneut ins Gesicht. "Geh nach Hause, Evelyn. Mach deine Hausaufgaben." Evelyn war schon aufgestanden und lief schnell zur Tür. Lautlos murmelte sie: "Wiedersehen." und rannte aus dem Zimmer. Schnell blickte sie sich noch einmal um ob Frau Werfer ihr folgte. Dann am Ende des leeren Flurs lief sie auf die große Tür zu, die nach draußen führte, blieb dann aber kurz davor stehen und huschte stattdessen eilig die Treppen hinauf. Im ersten Stock war das große Lehrerzimmer: Lieber wollte sie noch eine Etage höher, aber im zweiten Stock hörte sie Stimmen um die Ecke und so rannte sie weiter nach oben. Im dritten Stock war alles still aber Evelyn blickte weiter nach oben. Eine schmale Treppe mit einem Eisengeländer führte zu einer einzelnen Holztür, hinter der sich der Dachboden verbarg. Evelyn war noch nie dort gewesen, denn dort fand kein Unterricht statt. Zögerlich stieg sie die Treppe hinauf. Die Stufen waren aus Holz und knarrten. Dann stand sie vor der Tür und war unsicher ob sie wirklich hineingehen sollte. Vorsichtig legte sie ihr Ohr an das alte Holz. Nichts. Dafür schien der Karton unter ihrem Arm zu beben. Oder zitterte sie selbst? Schnell drückte sie die Klinke runter und hielt den Atem an.
Zunächst sah sie nichts, denn es gab scheinbar nur ein einziges kleines Fenster und so war es recht dunkel. Als sie klar sehen konnte blickte sie sich atemlos um.
Der Dachboden war leer. Ein unendlich großer Raum öffnete sich vor ihr der nach oben hin spitz zulief. Der Dachboden war größer als die Turnhalle oder die Aula und womöglich hätten beide zusammen auch noch Platz gefunden. Vor allem aber war der riesige Raum leer. An der linken Seite waren ein paar alte Holzstühle gestapelt und zwei Bänke waren verkehrt herum aufeinander gestellt worden, aber sonst wurde der Platz nur durch riesige Staubwolken beherrscht. Der Regen trommelte auf das Dach. Abgesehen davon war alles still. Ganz am anderen Ende sah Evelyn eine winzige steile Treppe. Wo die wohl hinführte? Evelyn lief staunend darauf zu. Ihre Füße hinterließen Abdrücke im Staub und wirbelten ihn auf. Hier war wirklich lange niemand mehr gewesen. Als sie näher kam, sah sie dass die Treppe wie eine Spirale steil nach oben führte. Ein Geländer gab es nicht, aber die Stufen waren aus Stein. Beherzt setzte sie einen Fuß auf die erste Stufe. Da hörte sie es hinter sich rascheln. Erschreckt drehte Evelyn sich um. Was war das? Aber hinter ihr war nichts zu sehen. Nur Staub. Jetzt hatte sie Angst. Aber da fielen ihr die Stadtelfen ein, von denen ihr Onkel Martin erzählt hatte. Sie lebten in verlassenen alten Häusern und konnten sich unsichtbar machen indem sie schrumpften bis sie nur noch so groß wie Staubkörner waren. Normalerweise waren sie aber so groß wie kleine Kinder und hatten goldene Flügel. Vielleicht trieben Stadtelfen ihr Unwesen auf dem Dachboden!
Ein kleines Lächeln schlich sich auf Evelyns Gesicht. Sie würde Onkel Martin einen Brief schreiben über die Elfen in ihrer Schule und sich bei ihm für sein Paket bedanken. Aber erst mal musste sie es natürlich aufmachen. Sie drückte den Karton an sich und lief die restlichen Stufen nach oben. Die Treppe führte aus dem Dachboden und einen engen Turm hinauf. Evelyn musste sich fast bücken so niedrig war die Treppe. Schließlich stand sie erneut vor einer Tür. Diese war nur angelehnt und Licht strömte durch den Spalt. Evelyn lugte hindurch und sah eine kleine verlassene Kammer mit vier kleinen Fenstern an den Stirnwänden. Hier war es schön hell und Evelyn schloss schnell die kleine Tür hinter sich. Bestimmt hatte sich in diesem Turm früher die Schulglocke befunden, aber jetzt war die Kammer leer. Auch hier lag der Staub zentimeterdick, doch Evelyn kümmerte sich nicht darum, sondern trat an ein Fenster und legte den Karton auf den Mauersims davor. Noch einmal schaute sie sich um. Dann holte sie tief Luft und legte ihr Ohr an die weiße Pappe. Nichts. Evelyn stieß den Atem wieder aus. Dann begann sie behutsam den Klebestreifen, der den Karton oben verschloss, mit dem Fingernagel zu lösen. Ritsch, und der Klebestreifen war ab. Noch einmal holte Evelyn Luft und beugte sich über den Karton.
Doch der sprang blitzgleich auf und die Kartonklappe rammte ihre Nase. Erschrocken schrie Evelyn auf und sprang zurück. Auf dem Karton saß eine kleine rote Fledermaus. Die mit dünner Haut bespannten Flügel hatte es zusammengeklappt und es blinzelte heftig mit den Augen. Stumm schaute Evelyn es an. Stumm schaute es zurück. Hinter sich hörte Evelyn ein leises Klingeln von Glöckchen, das fast wie silbriges Lachen klang. Aber vielleicht schrillte es ihr nur in den Ohren vom Schock. Doch das rote Ding vor ihr schien es auch zu hören und dann begann es plötzlich zu singen. Evelyn wusste dass Fledermäuse nicht singen. Sie war sich nicht einmal sicher ob das wirklich Gesang war, was sie da hörte. Aber es klang schön. So leicht und friedlich und hell und nach Sonne. Und tatsächlich schien mit einem Mal die Sonne. Der Staub im Zimmer begann im Sonnenlicht zu tanzen, als die Wolken für einen Moment die Sonne durchließen.
Evelyn staunte, doch dann schaute sie rasch wieder auf das rote Ding. Es hatte sich zur Sonne umgedreht und aufgehört zu singen. Jetzt wandte es sich abwechselnd Evelyn und der Sonne zu und schien dabei den spitzen Mund zu einem Lächeln zu verziehen. Du willst raus? fragte Evelyn schüchtern. Das Lächeln schien breiter zu werden. Evelyn ging ein paar Schritte auf das Fenster zu. Fragend schaute sie das kleine Ding an. Doch das hüpfte schon ungeduldig auf dem Mauersims auf und ab. Evelyn drehte schnell den Griff und öffnete vorsichtig das Fenster. Das rote Tierchen breitete seine Flügel aus und hob für eine winzige Sekunde ab. Plötzlich bemerkte Evelyn einen langen spitzen Schwanz den das Tier abspreizte. Mit einem Flügelschlag war das rote Ding in der Luft. Und ließ sich geradewegs nach unten fallen. Evelyn stürzte ans Fenster und schaute verzweifelt nach unten. Doch da hörte es von oben ein Zischen und genau über ihr schwebte der rote Kartonpassagier. Es zischte erneut und Evelyn bemerkte kleine Funken, die aus der Kehle des Tiers zu stammen schienen. Das lächelte sein eigenartig spitzes Lächeln, schlug noch einmal mit den Flügeln und sauste mir rasender Geschwindigkeit den grauen Wolken entgegen. Lautlos murmelte Evelyn: Ein Drachen.. Immer schneller, immer schneller entfernte sich der Drachen und wurde zu einem kleinen roten Punkt. In diesem Moment lugte die Sonne noch einmal durch die graue Wolkendecke und formte einen hellen Strahl. Und der kleine rote Punkt, der immer winziger wurde, flog direkt in ihn hinein und löste sich im Licht schließlich völlig auf.
 

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letzte Änderung: 26.08.2005
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