Wie ich in Coswig wohnhaft wurde

Nun, so ganz richtig ist das ja nicht, denn eigentlich richtete ich mich nur auf dem Coswiger Bahnhof wohnhaft ein. Zusammen mit den 90 anderen Fahrgästen der Linie Dresden - Leipzig, die wie ich - und nebenbei erwähnt auch der Schaffner (neu: Zugbegleiter) - hier an die Luft bzw. auf den Bahnsteig gesetzt wurden. Zum dritten Mal während der Fahrt übrigens.

Das erste Mal verließen wir in Radebeul den Zug, wegen eines Stromausfalls auf der Strecke. Unser bisheriger Zug setzte zurück und entschwand unserem Blick. Doch bald darauf kam ein anderer des Wegs mit dem wir unsere Fahrt fortsetzten - bis zur nächsten Haltestelle. Hier stellte sich heraus, dass der Strom immer noch ausgefallen war, also entstiegen wir alle in Radebeul - West erneut unserem Transportmittel. Ein drittes Schienenfahrzeug brachte uns dann noch nach Coswig und ließ uns dort alleine. Und es liegen noch so einige andere Orte zwischen Coswig und Leipzig...

Aber vorerst sind wir in Coswig. Ein schöner Ort - vermute ich zumindest. Von Gleis 2 kann man nicht wirklich viel sehen, aber von den anderen 4 Gleisen auch nicht. Das beruhigt mich ein bisschen. Ich bin somit nicht schlechter gestellt als die Wartenden auf Bahnsteig 4.

Gerade ist auf Gleis 3 ein ICE von Frankfurt nach Dresden durchgefahren - über Leipzig. In den Osten scheint man leichter zu kommen als in den Westen. Ein Mann der mir über die Schulter schaute, fragt mich, ob ich Satiriker sei? Ich verneinte. Satiriker übertrieben mir zu viel und dazu bin ich einfach nicht in der Lage. "Macht nichts," antwortete er darauf, "ich helfe Ihnen."

Dank seiner Hilfe wuchs die Zahl der wartenden Personen auf 210 an. Das gefiel mir überhaupt nicht. Zum einen entsprach es nicht der Wahrheit und zum anderen wurde es auf dem Bahnsteig ziemlich eng. Ich presste mich gegen einen Zug. Den Zügen konnte man vertrauen, dass sie sich nicht bewegten. Mauern mochten niedergerissen werden, Staaten zusammenbrechen aber ein Zug der Bahn verlässt nicht so schnell seinen Ort.

Einige Personen fragten die Menge, ob jemand Würfel dabei hätte. Spontan bildeten sich zwei Rollenspielgruppen und eine Fußballmannschaft. Vier Frauen und ein Mann tauschten neben mir verschiedene Rezepte aus, was bald Proteste auslöste, weil die Abendbrotszeit doch schon ziemlich herangekommen und ohne gewohntes Ereignis ebenso verstrichen war.

Ich fragte meinen Lehrer, ob er mit meiner bisherigen schriftstellerischen Leistung zufrieden sei. Er wiegte bedächtig den Kopf hin und her und meinte, dass er schon schlimmeres gelesen hätte. Das spornte mich an. Ich führte mit den interessierten Personen Bewerbungsgespräche bezüglich einer von mir angebotenen Schreibkraftstelle durch. Zwei Bewerber kamen in die engere Wahl.

Inzwischen gab es auch Neuigkeiten von der Bahn. Es stünde nun ein Zug nach München bereit. Unter den potentiellen Passagieren wurde diskutiert, ob man von dort eher nach Leipzig gelangen würde.

Die Bevölkerungszahl in Coswig hatte sich bereits verdoppelt, als eine S-Bahn nach Leipzig eintraf. Dieser Zustand führte zu allgemeiner Unruhe. Zum einen war das Fußballspiel, zur Teilnahme an der WM, gerade in die Verlängerung gegangen, zum andern wollten einige Familien ihre gerade frisch renovierten Wohnungen nicht schon wieder aufgeben.

Ich als der größte Arbeitgeber der Region verkaufte meinen Verlag an die hiesige Schülerzeitung und bestieg den Zug. Aus mir könne noch etwas werden, diagnostizierte mein Mentor, als sich der Zug in Bewegung setzte. Ich wäre der nächste Literatur-Nobelpreisträger. Ich finde er übertreibt.


 

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letzte Änderung: 22.06.2005
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